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AutorenbildLena Ashkenazi Stettler

Du wärst...

Yarin ruft in die weiter Bergwelt: "Schau Ory, was ich alles gelernt habe!". Fünf Minuten später sitzen wir bei einer warmen Schokolade im Burriszun, einem Bergbeizli, und in dem Moment dröhnt "Wellerman" aus dem Lautsprecher. Ohne Worte strahlt mich Yarin an. Und Mayra sitzt abends im Esszimmer und erklärt, Ory sitze auf ihrer offenen Hand. Als sie auf die Toilette muss, hüpft sie auf den Zehenspitzen raus, "setzt" Ory auf einen Stuhl. Auch beim Hineingehen vergisst sie sie nicht und meint: "Hey, wir haben Ory vergessen".

Mit einem verschmitzten Gesicht würdest du die Schokolade vom Frühstücksbuffet stehlen und dich mit den anderen Kindern verbünden. Du würdest mit Vera Piratenschiff spielen und vielleicht würdest du mit Mayra im Pijama die Treppe runterrutschen. Du würdest ganz sicher allen erklären, was Benzin in der Skischule unterrichtet und natürlich würdest du deinen lieben Bruder verteidigen, wenn er Streit mit anderen Kindern hat. Und dann würden wir nach Hause fahren. Natürlich würdest du um dich schlagen und schreien, dass du gar nicht gehen möchtest, weil es einfach zu schön ist auf den Skiern in den Bergen. Wie auf der Heidialp im Sommer. Auf der Nachhausefahrt würdest du dich auf dem hintersten Sitz verkriechen und verträumt und mit grossen Augen in die Landschaft schauen. Ab und zu vielleicht auch ein Lied singen oder ein Lied aus dem Radio wünschen. Und dann würdest du nach Hause rennen und als erstes am "Wawändu" (Lavendel) riechen und mit deinen strahlend schönen Augen sagen: "Ima, d Wäut schmöckt soooo guet. I bi so gärn uf dr Wäut". Und alles wäre wie immer.


Wenn sich doch die Welt nicht verändert hätte. Ich wünschte mir, alles wäre wie früher. So normal. Zu fünft.


Und dann wandern wir durchs Haus. Flüstern deinen Namen. Und vielleicht schreien wir ihn auch, wenn es niemand hören kann. Oder wir weinen alleine beim Autofahren. Weil du nicht da bist. Ich horche auf die Geräusche. Warte, dass ich deine kleinen Füsse im Gang tapsen höre. Deine Atemzüge, wenn du schläfst. Aber sie sind nicht da. Die Geräusche sind weg. Du bist fort. Im Lager ist dein Platz leer. Im Kreis beim Tanzen ist eine Lücke. Die deine. Deine Kleider hängen verlassen im Schrank, auch wenn dein Geruch immer noch da ist. In meiner Erinnerung. In dem Tshirt, in welchem du verunfallt bist. Zerrissen. Deine Spielsachen in deinem Lieblingskoffer, deine Lichter überall. Es gibt kein Zurück. Du bist fort. Und mit dieser unerträglichen Bürde muss ich weitergehen, nach vorne schauen, mich damit abfinden, dass du nicht mehr da bist, mich nicht mehr "Imush" nennst, mich nicht mehr in den Abfalleimer werfen willst, mich nicht mehr umarmst. Seit jenem Tag als du gefallen bist, sind wir alle neue Menschen. Neue "Ichs" und "Dus" und "Ers" und "Sies". Dieses neue Gefühl von "Ich", die Ima ohne drei Kinder, die Ima von zwei lebenden Kindern mit einer verstorbenen Tochter. Und diese Wut, die mich von innen auffrisst. Diese Trauer, die auf den Schultern lastet. Ich wünschte mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen, dir noch einmal all das sagen, wofür unsere gemeinsame Zeit nicht gereicht hat, aber die Zeit geht unerbittlich weiter und nichts und niemand hat mich auf das vorbereitet.


Liebste Oryana, es gibt keine Sekunde am Tag, wo ich nicht an dich denke. Es gibt keine Stunde am Tag, wo ich mich nicht dafür bedanke, was du mir alles geschenkt hast. Ich vermisse dich unendlich.


Deine Ima



730 Ansichten2 Kommentare

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2 Comments


Rhea Salome
Rhea Salome
Feb 11

Liebe Lena,

Bei der Recherche über die Ursache und Therapie von "Primär sklerosierender Cholangitis" bin ich abgeschweift und auf diesen neun Text von dir gestossen. Beim Lesen habe ich alles andere vergessen und mir eingebildet, vor meinem inneren Auge die gleichen Bilder zu sehen, wie du sie sahst beim Schreiben. So lebhaft sind deine Erzählungen...

Uns wird eingeredet, dass wir am Ende unserer Ausbildung bereit sind, Menschen zu hlefen, sie "gesund zu machen". Oft vergesse ich, wie absurd vereinfacht das ist. Als würde eine antibiotische Therapie oder ein chirurgischer Eingriff im Leben der behandelten Menschen "Reset" drücken, sodass sie wieder "neu beginnen" können. Weiterleben, als wäre das nicht gewesen - im schlimmsten Fall mit einer sichtbaren Narbe. Mit "Das kommt…

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Elin Gutschner
Elin Gutschner
Feb 10

Du Liebe, so ausdrucksstarke Worte! Ich denke so viel an euch und die liebe Ory. ❤️ Schicke euch viel Liebe

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Beitrag: Blog2_Post
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