top of page
Suche
AutorenbildLena Ashkenazi Stettler

Ein neues Jahr


Liebste Oryana, 1 Jahr, 5 Monate, 1 Woche und 6 Tage, gesamthaft 531 Tage und fast 76 Wochen sind wir ohne dich auf dieser Welt. Es vergeht keine Stunde, wo dein lachendes, lustiges, wütendes, trotzendes oder liebendes Gesicht nicht vor meinen Augen auftaucht. Es vergeht keine Stunde, wo ich nicht mindestens einmal an dich denken würde. Oft bringt es mich zum lachen, jedoch immer mit diesem Stich, mit diesem Stechen in der Brust oder einer gewissen Schwere, die auf mir lastet. Wieviele Male sass ich vor diesem Bildschirm und wollte etwas schreiben, wollte dem gerecht werden, was es für uns bedeutet, ohne dich hier zu sein...und jedes Mal musste ich aufgeben. Sechs Monate sind so vergangen und ich habe es nicht geschafft, zu schreiben.


Besonders diese Wochen vor Weihnachten waren besonders hart und tränenreich für mich. Am liebsten verkrieche ich mich dann oder gehe zu dir ans Grab. Überall Lichter, Kerzen, Familien, Feste, Märkte: all das hast du so geliebt. Nie vergesse ich deine Augen auf dem Sternenmärit mit mir, als du deine Churros erhalten hast. Wie tief hat mich deine Freude berührt, einfach dazusitzen. Du hast gesagt: "Chöi nid mau aui eifach stiu si? Es isch drum grad so schön." Hätten wir gewusst, dass es unser letzter Moment auf dem Sternenmarkt ist, das letzte Mal, wo wir gemeinsam Weihnachten feiern und die Zeit des Lichts und Chanukka geniessen, wie wäre das wohl gewesen? Hätte ich dann bewusster wahrgenommen, wie ernsthaft du zum Beispiel durch das Adventsgärtlein gelaufen bist? Immer mit Blick auf die Kerze, vorsichtig, tastend und doch so sicher, wohin dieses Licht gehen soll. Immer wenn du an mir vorbeigelaufen bist, hast du zu mir geschielt, im Bewusstsein, dass du nicht winken darfst.


Diese 76 Wochen sind die prägendsten in meinem Leben gewesen und werden es wohl weiterhin sein. Manchmal halte ich andere Menschen kaum aus, wenn ich dann sehe, dass die anderen "alle" sind, dass nur wir das so jetzt durchleben müssen. Dann immer wieder bin ich - so absurd es klingt - froh, Menschen zu treffen, die das gleiche erlebt haben. Das Wissen, dass sie genau fühlen und wissen, wie es ist. Wie unfähig ich manchmal bin, deine Nähe so zu erkennen und zu akzeptieren, dass mein Schicksal so ist wie es ist. Immer wieder erlebe ich Momente, wo ich mich an den Gang zu deinem Grab erinnere. Schritt für Schritt. Hinter einem kleinen Sarg. Im Wissen, dass du darin bist, mit deiner Puppe Li-Si, mit deinen Lieblingsturnschuhen und deinem Rucksäckli. Und dann plötzlich die Erkenntnis, dass es wirklich kein Traum ist. Dass deine Ima und dein Aba wirklich da mitlaufen mussten. Dass du für immer von uns weg sein wirst. Das ist die schwerste Tatsache, mit der ich mich befassen muss.


Du, kleines Mädchen, grosse Seele, lehrst mich alles, was mich das Leben bisher nicht gelehrt hat. Das Schwierigste dabei, ist dich zu vermissen. Wie wahr ist dieser Satz: Dich gehen zu lassen war unglaublich schwer, dich zu vermissen jedoch viel mehr.


Mein liebes Sternenmädchen, ich hoffe, dass du auch im nächsten Jahr ganz oft zu uns kommst, uns begleitest und bei uns bist. Deine Ima und dein Aba tun ihr Bestes, den Alltag ohne dich zu bestreiten. Wir hoffen, dass du ab und zu auch mal ein wenig stolz sein kannst. Um es mit den Worten von Rami Elhanan zu sagen:


"You exist within me. All the time. 59 seconds every minute, every day and every night, every moment. All over again and again. I feel your presence. Time can never heal this wound. The unbearable ease with which life goes on, is an unsolvable riddle." (Rami Elhanan an seine getötete Tochter Smadar)

625 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Du wärst...

Yarin ruft in die weiter Bergwelt: "Schau Ory, was ich alles gelernt habe!". Fünf Minuten später sitzen wir bei einer warmen Schokolade...

Manchmal...

Comments


Beitrag: Blog2_Post
bottom of page