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AutorenbildLena Ashkenazi Stettler

Frühling und dein letztes Selfie

Fassungslos starre ich auf das Datum und dein Bild. Das letzte, welches ich von dir habe. Du hast es selber geknipst, kurz vor deinem Sturz. Ein schelmisches Lachen. Ein Glitzern in den Augen. Farbe vom Malen im Gesicht mit deinem Lieblingstshirt. Es liegt zerschnitten auf deinem kleinen Tisch. So klein ist es. Passend zu einem 5-jährigen Mädchen, welches stolz das erste Kindergartenjahr absolviert hat. Du hast es getragen bis zum Ende. Ich habe dich gehalten. Es riecht immer noch nach dir. Und Mayra hat mittlerweile ein Röckli mit demselben Motiv. Sie wollte das unbedingt.


Es ist Ende März. 2023. Blüten überall, blühende Blumen, Oryanas gelbe Glockenblumen, die sie so geliebt hat. Bei meinem Nachbarn spriesst alles. Wie oft sass sie bei ihm auf unserem Bänkli, hat Blumen ausgerupft, oder auch nur daran gerochen, und war sich ganz sicher: die Blumen gehören auch ihr, nicht nur Bede, unserem Nachbarn. Und wenn sie mit abgerissenem Lavendel kam war es für sie klar, dass Bede das auch erlaubt hat.


Es ist Frühling. Wir haben zwei Kinder. Und trotzdem: mein gewachsenes Selbstverständnis als Mama ist in Gefahr. Oryana ist nicht einfach gestorben, nein, ein Teil der eigenen Zukunft ist mit ihr gegangen. Ich sitze und denke an ihre lachenden, strahlenden Augen, wenn sie die kleine Mayra auf dem Schoss hatte. Sie zwinkert mir zu. Ich war Mama von drei Kindern. Ich bin Mama von drei Kindern. Nur dass eines physisch nicht bei mir ist. Und ich stelle mir so viele Fragen:


- wieso hat diese verdammte Welt denn nicht für ein paar Minuten wenigstens aufgehört, sich zu drehen? Warum?

- Wieso können Blumen aus der Erde kommen und Bäume knospen bilden, wenn doch mein geliebtes Mädchen den Frühling nicht sehen darf?

- Wieso können Kindergeburtstage gefeiert werden, ohne dass Oryana Süsses naschen darf?

- wieso kann eine Quartalsfeier stattfinden, wo nicht auch Oryana Flöte spielt? Sicherlich etwas falsch und mit zuviel Luft, aber doch so innig.

- wieso muss Mayra fragen, warum Oryana runtergefallen ist?

- warum muss Yarin seine geliebte Schwester beim selbsterfundenen Bubispiel ersetzen?

- warum merkt niemand, wie schwierig Schulanlässe sind?

- wieso verdammt nochmal musste es unsere Tochter sein?

- warum muss Dian alleine am Fluss lösele, wo sie doch seine Freundin war?

- warum halten Menschen nicht aus, dass wir unter dem Tod von Oryana leiden?

- wieso durfte Oryana nicht bei uns bleiben?

- warum durfte ich nicht mit Oryana in der Ambulanz sein?

- warum - verdammt nochmal - gibt es einen Alltag ohne Oryana?


Gerne würde ich Oryana fragen, wie ich es verstehen könnte, dass so viele Menschen der Umgang mit dem Sterben so schwer fällt. Dass eigentlich viele Menschen froh sind, dass sie einen gewissen Alltag bei uns feststellen. Früher war die Kindersterblichkeit viel höher, der Umgang mit dem Tod war vertrauter, geübter. Für viele Freund:innen ist die Angst, dass ihnen etwas ähnliches passieren kann, sehr gross. Sie vermeiden es, mit mir darüber zu sprechen und ziehen sich zurück. Das macht mich unendlich einsam. Der ganze Alltag ist anders. Wo beginnen? Was gestalten? Wie begleiten? Und mit diesen Fragen schaue ich in eine ungewisse Zukunft. Mit einer Familie, die mir unendlich wichtig ist, aber nicht die meine zu sein scheint. Einfach weil Oryana weg ist. Du fehlst mir so, mein liebstes


grosses Mädchen.


1.229 Ansichten2 Kommentare

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2 comentários


mirjam.anderegg
29 de mar. de 2023

liebe, liebe lena

so gut kann ich dich

und den schmerz verstehen:

das fehlen von oryana,

mit dem du/ihr lebt,

dass sie, eure tochter,

nicht mehr bei euch lebt.

ja, warum?

ich nehme dich, euch so wahr

und ich verstehe dich, euch so fest.

in liebe und tiefer anteilnahme,

mirjam


Curtir

Regula Stettler
Regula Stettler
29 de mar. de 2023

Liebste Lena,

Ich habe grosse Achtung vor dir und dem was du schreibst! Und sei gewiss: Ich sehe dich, ich höre dich, ich fühle mit dir UND ich teile deine Fragen! Auf unser Orykind!

Curtir
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