Am Lago Maggiore, 1. Oktober 2021, spätabends
In einem unserer letzten Gespräche mit der Kindergärtnerin unserer Tochter hat sie uns gesagt, dass sie sich manchmal die Frage stelle: Wo bist du, Kind? Immer wieder hatten wir das Gefühl, Oryana sei eigentlich so viel reifer als ihre fünf Jahre und nicht selten meinte Oren: wir müssen uns daran erinnern, dass sie erst fünf ist, wenn wir mit ihr sprechen! Wie recht er hatte. Oft hatte sie diesen in meinen Augen melancholischen Blick in die Ferne, der vielleicht viel mehr von ihrer Verbundenheit mit der geistigen Welt zeugte und nichts mit Melancholie zu tun hatte.
Wie können aber wir dieses Schicksal verstehen? Wie damit umgehen? Ich möchte in einem späteren Beitrag auf alle möglichen Reaktionen hinweisen, die uns unterstützt oder eben auch betroffen gemacht haben.
Vor der Geburt von Oryana haben wir uns die Frage nicht gestellt: woher kommst du? Vielleicht sollte man das tun. Viel zu sehr waren wir beschäftigt mit ihrem Bruder, der Arbeit und dem Vorbereiten auf ihr Kommen. Trotzdem sind die Geburten von Kindern wohl unsere unmittelbarste Begegnung mit dem Himmel. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, dass alle Tore offen sind, ich dem Himmel nahe und das Existentielle, worauf ich nicht vorbereitet war. Und trotzdem: noch viel existentieller wird es beim Tod eines Kindes. Das Unvorbereitet-sein traf uns mit aller Wucht. Es trifft uns immer noch mit aller Wucht. Oryana an der Unfallstelle. Sprechend. Oryana in der Ambulanz. Oryana vor der Operation. "Madame, küssen Sie sie", meinte ein Pflegender auf Franzözisch. Er schien richtig besorgt zu sein. Und später Oryana in Paris, im viel zu grossen Spitalbett, klein und zierlich, mit einem Verband um die schönen Locken. Geräte die piepen, Maschinen, die das Leben noch ein kleines Stückchen verlängern. Und trotzdem: unsere Hoffnung, es könnte sich zum Guten wenden. Irgendwann keimte bei uns der Gedanke auf, dass es wirklich das Ende sein könnte. Ein Gedanke, der sich wie ein Bohrer in den Körper frass. Langsam, unerbittlich. Sätze, die nicht mehr aus dem Kopf gehen:
"Your daughter is very very sick."
"We are worried for the life of your daughter."
"The pressure in her brain is too high. Her brain is damaged."
Wir haben zum ersten Mal in unserem Leben neben unserem Kind gebetet. Wir haben Oryana Geschichten erzählt, vorgesungen, Wellerman und Patent Ochsner abgespielt. Immer ihre Lieblingslieder. Und vor allem haben wir "Esu Nu Maye" gesungen, ihr Lied zum Einschlafen. Eine afrikanische Weise, welche beim Abschied von nahen Verwandten gesungen wird. Das wusste ich damals noch nicht. Immer wieder wurden wir Empfänger von solchen schwierigen Sätzen im Spital. Fast stoisch haben wir sie empfangen, wie in einem anderen Leben, bis ein letztes Gespräch stattfand. Wir liefen den Gang zum Büro nach hinten, fast wie in einem Film, wissend, was folgen würde. Bis der endgültige Satz da war, von welchem wir wie in David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" Empfänger:in werden mussten. Erst damit starb Oryana:
"We have bad news. The brain of your daughter has no reaction anymore. Your daughter is actually dead."
Die Tränen steckten irgendwo im Innern fest. Wir hielten uns an den Händen, krampfhaft. Stille herrschte draussen, innerlich tobte ein Sturm, den ich nicht beschreiben kann. Aber warum? Sie ist doch gar nicht hoch gefallen! Es war unser erster Ferientag! Wollte sie das so? War es richtig für sie und besser? Unvorstellbar schien mir ein Leben ohne Oryana und unvorstellbar scheint es mir immer noch. Wir verbrachten Stunden neben ihr. Sie bereitete uns auf ihren physischen Abschied vor. So nahe waren wir ihr, als wir sie halten durften, waschen, anziehen. Ihre geliebten Locken frisieren. Ich höre sie noch, wie sie mir am letzten Tag im Kindergarten zuruft: "Juhu Ima, itz muessi sächs Wuche ke Frisur mache!" So wunderschön war sie. Nur wenn wir alleine waren, da kamen die Tränen und wollten nicht enden. Es tat gut zu weinen. Tränen sind Perlen der Seele, das habe ich einmal gehört. Wieviele Perlen ich gesammelt habe für dich. Wieviele Perlen ich immer noch sammle.
Danke für diesen ehrlichen Blog!
Lena, du Perlensammlerin: Tränen sind die weiche, durchlässige Trauer...geweinte Tränen sind gelebte Trauer... Als Viktor Frankl einen Mithaeftling in Auschwitz fragte, wie er es geschafft habe, seine Hungeroedeme wegzubekommen, hat dieser geantwortet: " Ich habe sie mir herausgeweint.... "So werden wir noch viele Perlen sammeln für uns und für Oryana.