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AutorenbildLena Ashkenazi Stettler

Oryana Lia 2016 - 2021, Nr. 3

3. Oktober am Lagio Maggiore, abends im Regen


Unendlich viele Menschen haben Anteil genommen an unserem Schicksal und nehmen es immer noch. Sie tragen uns, soviel ist sicher und es ist eine grosse Unterstützung. Immer wieder fühle ich mich auch wieder elend, dass ich nach aussen so stark wirke. Es scheint so, als wäre eine Beerdigung in farbiger Kleidung mit Kindern für viele ein Affront. Was soll denn an einer Beerdigung fröhlich sein? Freut sich die Familie über den Tod ihres Kindes?


Nein, das tun wir alle nicht. Aber wir glauben daran, dass die Beerdigung für die Zurückgebliebenen ist, für die Kinder, die noch hier sind und die eine viel nähere Beziehung zum Himmel pflegen, wie es uns je wird möglich sein. Die Kinder haben kein Problem, ihre tote Freundin zu begleiten, neben ihrem offenen Grab zu sitzen und Seifenblasen darüber ziehen zu lassen. Sie haben auch kein Problem, einen Sargdeckel mit allen menschenmöglichen Farben zu verzieren, Perlen, Federn, Muscheln und mehr daraufzukleben. Oryana durfte so viele Schätze mitnehmen auf ihre Reise:

- ihren persönlichen Rucksack

- ihre eigenen Kopfhörer

- die Eheringe von uns

- Abas Uhr und seinen Anhänger aus Schieferpyrit

- Nanas Zigarettenschachtel (die wollte sie schon immer haben)

- einen Labello

- Kaugummis

- einen Frosch genannt Wossi

- ihre Puppe Li-Si (der Bruder Jim Tom Knopf blieb mit Yarin)

- ihre schnellen New Balance Schuhe

- ihre farbige Fairtradehose (welche sie auch ihrem Papa aufgeschwatzt hat)

- einen Eifelturmanhänger von Yarin

- ihren feinen Spray den sie immer und überall versprüht hat

- und natürlich eine Taschenlampe.

Wie oft haben mir die Eltern von Freunden von Oryana bestätigt, dass ihre Kinder sie gesehen haben. Am Tag des Unfalls zum Beispiel eine Nachbarin. Oryana trug ein weisses Kleid und stand bei ihr im Gang. Ihr bester Freund Dian sieht sie an vielen Orten: in seinen Träumen nachts spielt er mit ihr, im Flugzeug hat er die über den Wolken erblickt und er kann sie zu sich rufen, wenn er viele Male "Ory Bory" vor sich hin singt. Ein anderes Kindergartenkind wusste, dass sie gestürzt ist, obwohl wir das noch nicht geschrieben haben. Einige werden das abtun mit: das ist pure Fantasie. Ich glaube das nicht mehr. Yarin hat am ersten Morgen zu Hause erzählt, dass er sie im Traum besucht hat. Er meinte:


"Oryana ist auch traurig, dass sie so früh sterben musste, aber sie hat mir das Geheimnis des Himmels erzählt. Willst du das auch wissen, Ima?"

"Ja gerne, wenn du es erzählen magst."

"Oryana sagt, dass es im Himmel überall grün ist. Es gibt keine Tunnels, keine Autobahnen, keine lauten Geräusche. Es ist alles voll grüner Wiesen und Bäumen zum klettern."


Ja, das passt, dass unsere Tochter in einem Himmel ist, in welchem sie auch klettern kann. Ich werde ihre Seele erkennen, wenn ich ihr eines Tages folge. Vor meiner letzten Reise ohne sie hat sie mir eine Karte gemalt mit einem schönen Pferd. Meine Mutter ("Nana") musste ihr den Text hinschreiben: "Ima, ich bin traurig dass du weggehst". Nur einen Monat später hätte ich ihr diese Karte schreiben können.


Und nun zur viel gestellten Frage: wie kann man reagieren auf uns als Familie? wie reagiert man überhaupt? Ich schreibe gerne hier einige unserer Erlebnisse auf, welche wir in den letzten zwei Monaten hatten.


Den Satz, den ich am meisten gehört oder gelesen habe geht so: "Ich weiss einfach nicht, was ich zu euch sagen/schreiben soll." Liebe Freund:innen, das verstehen wir. Das ist mehr als verständlich. In umgekehrter Situation wüssten wir es auch nicht. Aber dann ist es vielleicht doch wichtig, eben dann auch nichts zu sagen. Wie viele Gespräche gab es, welche ich im Nachhinein gerne rückgängig gemacht hätte. Einige meinten, es spiele gar keine Rolle, ob das Mädchen physisch nicht mehr da sei, weil sie ja auch geistig mit uns verbunden sei. Andere sagten, das sei wahrscheinlich Karma. Stellt sich nur die Frage, was wir in unseren letzten Inkarnationen ausgefressen haben, um das ertragen zu müssen, oder? Viele Reaktionen waren aber auch so:


"Was ihr durchmacht, das würden wir gar nicht überleben."


Doch, das würdet ihr. Ich hätte nämlich vor drei Monaten das auch gesagt. Ich habe sogar immer mal wieder gesagt, dass es der absolute Horror sein muss, ein Kind zu verlieren. Ich habe sogar Bücher dazu gelesen. "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" von David Grossmann, "Aus der Zeit fallen" von David Grossmann, ein Buch einer uns sehr nahestenden Familie, welches den Tod ihrer Tochter behandelt. War das hellsichtig? Wusste ich es? Diese Frage werde ich mir nicht beantworten können. Aber gleichzeitig steckt in diesem Satz "das würde ich nicht überleben" eben auch eine leise Kritik: "Wenn du das überlebst, dann hast du vielleicht dein Kind gar nicht so fest geliebt." Oder es entsteht noch die absurdere Situation, dass ich diese Person trösten muss und vielleicht sogar sage: "Hör mal, so schlimm ist es gar nicht."


Aber doch, es ist genau so schlimm wie ihr euch das vorstellt. Nur selten kann ich darüber vor anderen Menschen weinen. Weinen wäre ja noch in Ordnung. Aber ich stelle mir vor, dass ich schreiend auf dem Boden liegen würde, so wie es mein Sohn zuweilen tut in der Schule. Wie geduldig dann die Menschen monatelang wären, da bin ich mir unsicher. Das bin ich mir auch mit der Schule unsicher. Wie bald kommt dann der Satz: "Wieso soll denn jetzt mein Kind leiden, nur weil dieser Junge seine Schwester verloren hat"? "Wird denn dieses Trauma gar nicht behandelt, das ist doch jetzt schon acht Monate her!"

Mittlerweile gibt es auch Menschen, die zu unseren Freunden sagen, wir seien ja gar nicht so traurig, wir würden ja mit unserem Sohn wieder draussen spielen und sogar lachen. Furchtbar! Das geht ja eigentlich wirklich nicht. Einige sagen mir, ich würde strahlen. Und ja, diese Kraft, welche ich habe, da bin ich überzeugt: die stammt von meiner Goldtochter im Himmel. Die leiht sie uns, damit wir zu Yarin und Mayra schauen können.

Ein ganz schlimmes Wort, welches man in diesem Zusammenhang anwenden kann ist: "Schade". Als Synonym könnte hier vielleicht "bedauerlich" verwendet werden, was mir im Falle eines gestorbenen Kindes eine Frechheit scheint.

Aus Israel hörten wir vor allem den Satz: "Seid stark". Wieso aber genau? Warum sollte ich stark sein? Heisst weinen "nicht stark sein"? Was meint ihr damit? Das haben wir uns immer wieder gefragt. Doch, wir möchten miteinander weinen dürfen. Vor unseren Kindern weinen. Gemeinsam weinen. Im starken Wissen, dass wir uns auch alle helfen lassen. Gerade darin wollen wir Stärke zeigen. Auch für unsere Tochter wollen wir Stärke in der Trauer zeigen. Unsere Tochter, die vor allem eins war: lustig. Immer wieder unglaublich lustig.


Und trotzdem: niemand meint es böse. Niemand möchte uns etwas "Falsches" sagen. Wenn mich jemand fragt, was eine richtige Reaktion sein kann, dann vielleicht folgende:

"Ich weiss nicht, was ich in dieser Situation sagen kann und deshalb lasse ich es sein. Ich bin hier, wenn du mich brauchst. Und ja, auch noch in zwei Jahren,"

Oder es gibt auch die Menschen, welche eigentlich nie was sagen. Aber sie kochen ungefragt etwas, schicken kleine Zeichen, Bilder, Karten, Gedichte. Oder sie gehen ans Grab. Senden Musik. Oder kommen ein Bier trinken und lachen mit uns. Oder eben auch Tee. Oder räuchern mit Yarin. Oder spielen mit Mayra. Oder betrachten Bilder mit uns. Laden uns ein in ihr Haus. Wandern mit uns. Schicken Blumen. Blicke kreuzen sich. Ein Lächeln. Eine Träne für uns.


Diesen Menschen, diesen vielen vielen Menschen, welche das mit uns geteilt haben und immer noch teilen, denen sage ich Danke. Wir sagen Danke.



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1 Comment


Regula Stettler
Regula Stettler
Oct 03, 2021

Liebe Lena, deine sogenannte Staerke, welche so viele an dir wahrzunehmen scheinen, ist eben auch eine Projektion! Natürlich bist und warst du stets eine kraftvolle Person.Aber diese Kraft zeigt sich gerade jetzt darin wie du deinen so ganz eigenen Trauerweg gehst...

Vertraue der Liebeskraft deiner schönen Seele!

Vertraue der Wandlungsfähigkeit der Liebe!

Lass deine Trauer genau in der Form zu, die sich für dich als richtig zeigt!

Du musst nicht immer sichtbar in Form von Tränen trauern. Du findest die Form, die zu dir passt!

Und lass es nicht zu, dass andere von aussen ein Urteil darüber abgeben. Diejenigen, die das tun, wissen es nicht besser...

Und auch auf jeden Trauerweg sind Umwege, Abstürze, Rückschläge, Sprünge und andere ungewöhnliche Erfahrungen…


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