Wut
Viele fragen mich, ob denn überhaupt die Frage "Wie geht es dir?" gestellt werden sollte. Das ist wirklich eine gute Frage, denn so alltäglich die Frage ist, so unalltäglich wohl die Antwort. Entweder müsste ich ganz weit ausholen zum erklären, warum es uns "scheisse" geht oder ich mache es einfach und beantworte mit: "Es ist ein Auf und Ab", denn damit ist alles in Ordnung. Aber immer wieder spüre ich eine w
eitere Regung: die abgrundtiefe Wut. Der Moment, in dem man jedes, jede und jeden an eine Wand klatschen könnte, wütend ist auf die Menschen, die etwas so unprosaisches machen können wie in ein Sandwich beissen, oder eben die Frage stellen, wie es denn so gehe. Ja, die Wut. Sie taucht immer wieder auf um Trauer, Schmerz, Verleugnen oder Fragen abzuwechseln. Gleichzeitig bin ich beruhigt, denn anscheinend befinde ich mich in einem totalen Normbereich der Trauerverarbeitung nach Kübler Ross. Bravo Lena, es scheint alles bei dir normal zu sein. Nur leider ist es nicht mehr möglich, in meinem Alter auf wildfremde Menschen einzuschlagen oder laut in der Stadt loszuschreien. Aber ehrlicherweise muss ich sagen: ich beneide meinen Sohn. Ich beneide ihn, dass er das noch machen "darf", dass Verständnis dafür da ist. Ich muss mir dazu schon andere Orte suchen. Wild auf ein Kopfkissen hauen, schreien im Wald, unter Wasser beim Schwimmen, oder meinen Arm mit dem Namen meiner Tochter tätowieren lassen.
Teilweise trifft die Wut folgendermassen auf. Oren erzählt gerade einem Freund vom Unfall. Die Frage darauf: "Das ist ja fürchterlich. Hast du denn nicht auf sie aufgepasst?" Da kommt sie. Angestaut. Meine Wut. Auch wenn mir jemand "Schöne Ferien" wünscht. Wie sollen denn unsere Ferien bittesehr schön sein? Kann mir jemand erklären, wie ein Tag ohne Oryana "schön" sein kann? Wütend auf Oryana kann ich nicht sein. Wütend auf den lieben Gott. Das geht schon besser. "Scheisskerl" schreien. Wütend auf das eigene Schicksal? Das geht auch. Aber wem sage ich denn nun meine Meinung? Wütend auf wildfremde Kinder? Wütend auf das Spital? Den Arzt? Alle kriegen einen Teil meiner Wut. Ich muss sie aufteilen und hoffen, dass in den Normphasen der Trauer auch wieder eine neue auftritt. Und dann doch etwas deprimierend: Depression. Angst. Nicht gerade die Phasen, die ich mir nach der Wut wünsche.
Um auf meine Anfangsfrage zurückzukommen: soll gefragt werden "Wie geht es?" Vielleicht ist es am einfachsten, genau die Frage zu stellen: "Soll ich dich fragen, wie es dir geht? Oder möchtest du, dass ich es lasse?" Ich denke, das könnte angemessen sein. Und rechnet damit, dass ihr selber dann weint und nicht ich. Die Trauer und der Schmerz überkommen mich eigentlich immer nur, wenn ich alleine bin, im Schutz der Familie. Alleine im Bett. Auf dem Balkon im Regen. Beim Betrachten von Bildern und Videos. Beim Begleiten meines Sohnes in den schwierigsten Situationen. Gerade heute hat er eine Postkarte an den Himmel verschickt:
"Liebschti Ory, I wünsche mir, dass du wider abechunnsch. Eifach zu mir söusch cho. Und wes scho nid richtig geit, de chum wenistens im Troum, so dass mir chöi Bubi spile. Das isch immer so luschtig gsi mit dir. Drücker, Chibuk und Müntschi vo dim Brüetsch Yarin."
Das Müntschi war ihm zuerst unangenehm vor dem Postboten. Dann meinte er, es sei ja egal, er wolle das wirklich so schreiben. Und ja, nach diesen Zeilen weinen wir. Es tut weh, das physische Vermissen meiner Kinder zu sehen. Auch wenn einige Freund*innen froh wären, wir würden möglichst schnell wieder zu einer Normalität finden: das verstehen wir, aber es ist trotzdem nicht falsch zu akzeptieren, dass es nie mehr so wird wie früher. Auch mit einer neuen "Normalität". Und nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie verändert sie nur. Langsam. Stetig. Aber die Wunde bleibt. Und das ist gut so.
In einem der gelesenen Bücher stand, dass sich die Wut dann auch gegen die Familie richte oder nahe Freund*innen. Da muss ich widersprechen: alle Menschen, die mit uns und diesem Schicksal verbunden waren. Alle unsere lieben Freund*innen, die uns in Saint Julien du Sault, Paris und Bern unterstützt haben: nie hat sich meine Wut gegen euch gerichtet! Teilweise fühle ich mich machtlos, dass ich immer eine Erinnerung sein werde an dieses tragische Schicksal. Dass ich euch immer daran erinnere, dass es möglich ist, ein Kind zu verlieren, ohne Vorwarnung, ohne Krankheit. Das tut mir weh. Und trotzdem: ihr habt uns gestützt in den schwierigsten Momenten. Zu euch werde ich meinen nächsten Text schreiben.
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