Immer wieder frage ich mich, warum ich meine Trauer nicht "teilen" kann. Ich arbeite, unterrichte Schüler:innen, lache mit ihnen, arbeite und bin mir eigentlich auch sicher, dass ich "echt" bin und nicht in einer Rolle. Und trotzdem: die Trauer schleicht sich langsam von hinten an. Sie klopft an, wenn ich sie nicht erwarte. Wenn keine Ablenkung da ist und sie trifft mich unerwartet. Dann fliessen die Tränen, die Bilder von Oryana überschlagen sich, ich sehe sie lebhaft vor mir, wie sie winkt, lacht, wütend ist, spielt, schläft. Diese Momente sind kaum aushaltbar. Und deshalb würde ich einfach so gerne noch einmal die letzten Wochen Revue passieren lassen, bevor Oryana von uns gegangen ist. Einige dieser Erlebnisse aufschreiben und sie so "erinnern".
Ich beginne mit unseren Ferientagen im "Stampf" bei Sigriswil. Oryana war so glücklich dort oben und wirklich und wahrhaftig dem Himmel nah. Die Fotos zeigen dies und machen mich still vor Erstaunen, wie es sein kann, dass dieser Blick auf den Bildern so eingefangen wurde. Als wir weggegangen sind meinte Oryana:" Aba, I möcht hie ganz lang blibe. Chöi mer nid einisch eifach e Monet hie si u vo hie id Schuel?" Sie war so glücklich mit den Mädchen von Myrte, mit den grösseren Schulkindern. Sie wanderte hoch auf die Hügel und wollte den Sonnenuntergang sehen. Sie spazierte mit mir und aba auf den Schneefeldern und Richtung Alp hoch. Sie spielte ein Konzert auf Fonduegabeln. Sie sang für Mayra "Happy Birthday." Sie schlief nahe neben uns. Am liebsten sass sie halbnackt auf der Ofenbank. Die Bilder sind vom 19. April. Genau drei Monate vor ihrem Tod.
Am 1. Mai sind Flo und Familie bei uns am Feiern gewesen. Ory konnte wieder einmal bauen mit Flo. Dieses Mal ein grosses Loch in der Wand schliessen. Stolz stand sie mit dem Staubsauger an der Wand und hat Mayras Götti angestrahlt. Wie toll, wenn man gemeinsam bauen kann. Kisten wurden in die Wand gebohrt. Mit ihrer Werkzeugkiste, die sie von Flo geschenkt bekommen hat, verbringt sie die Nacht im Bett.
Fast jeden Tag fuhren wir auch auf den Inlineskates, normalerweise in sehr spezieller, selbst ausgewählter Kleidung, die durchaus auch mir teilweise etwas peinlich war. Viele Aarewanderungen im April und Mai, Oryana als Marathonläuferin mit Flasche hinten in der Hose, rennend, Wellerman hörend. Oryana im hohen Gras, am Abkürzungen suchen und das unvergessliche Bild mit Yarin: ein Bild, welches eine tiefe Liebe und Dankbarkeit ausdrückt und über viele schwere Stunden half.
Am 18. Mai ein Besuch bei Alice, um ihren Geburi zu feiern. Oryana mit Mayra als grosse, stolze Schwester und Ende Mai als totaler Maccabi Haifa Fan vor dem Computer, von oben bis unten grün eingekleidet mit dem Logo vom Fussballteam. Tanzend, singend.
Am 30. Mai eine weitere Aarewanderung und am 31. Mai aus Liebe zu Ima: "Okay, I lege hüt mau für di es Röckli a. Aber nume hüt. Mach es Foto drvo..."
Unvergesslich folgendes Erlebnis
Bisher konnte Oryana nie mitkommen zum Zirkus von Nicole&Martin, da sie immer zu jung war für die Stücke. Einen Monat vor ihrem Geburtstag endlich, durfte sie mitkommen nach Thun, eine ungeplante Aufführung "Vom Fischer und siner Frou" schauen. Welche Aufregung! Sie hat sich schön angezogen, die Hose, die du auch auf deine letzte Reise genommen ha
st. Du hast so erwachsen ausgesehen und warst ganz still während der Aufführung, ein wenig enttäuscht, dass sie nicht auch Fischer sein konnte. Und trotzdem: wir haben es geschafft herzallerliebste Tochter! Du durftest mit uns mitkommen, wir haben gemeinsam einen wunderschönen Tag in Thun verbracht, du hast mit Nicole&Martin gesprochen und dir eine schöne Karte vom weissen Zirkuszelt ausgewählt. Märchenhaft liegt es in der blauenNacht. Nun liegt die Karte in deinem Koffer, deinem Reiseerlebnis. Die Erinnerungen, an deine Erdenzeit bei uns. Du fehlst...
Du wolltest unbedingt das 12. Klasstheater schauen. Du kamst, sassest mit aba in einer vorderen Reihe, bis du unbedingt bei mir sitzen wolltest. In der letzten Reihe aber mitten im Saal, auf der Treppe, da sassest du mit mir und hast mich immer wieder gefragt: "Wieso si de die so pressiert?" Das berührendste Bild für mich die Szene, wo ein Mann Kind und Frau beim Attentat in Bataclan verliert. Du warst traurig und hast mich fest gedrückt. Welche Bedeutung hat dieser Text für mich erhalten. Und danach ging ich auf Abschlussreise. Du bliebst mit Aba zu Hause und hast mir ein wunderbares Pferd gemalt: "IMA ICH BIN TRAURIG DASS DU WEGGEHST", so hast du Nana schreiben lassen. Das Bild werde ich ewig für mich behalten. Und du hast mir in einem Video gesagt, dass du dir wünschst, dass ich gesund in Bern ankomme und niemand aus meiner Klasse ein Bein bricht. Das ist nicht passiert, liebste Ory. Schon da hast du uns sicherlich beschützt. Wie unbeschwert ich war...
Und am 25, Juni durftest du mit uns Johanni erleben. Das Feuer hat dich fasziniert, ganz nahe gingst du daran und ich habe immer wieder geschaut, dass ich dich nicht verliere. Dein Freund Dian ging mehrmals verloren. Wie stolz du warst, erst 4 zu sein und schon am Johanni. Danach Marzili- und Gartentage mit Zirkus üben und dann - dein 5. Geburi.
Du wolltest Geburtstag feiern, mit Freunden. Dian soll dabei sein und eigenlich auch sonst ganz viele. Ich habe dir gesagt, dass wir das erst ab dem 6. Geburtstag machen. Du wolltest früher. Und was merkte ich? Ich habe frei. Ich könnte dich ja auch einfach überraschen mit einem Geburi. Und es wurde ein wundervoller, tanzender, sternsingender Geburtstag. Wir überraschten dich am Mittag und fuhrn ins O'Bloc mit Stefanie und Familie, Daphné und Familie, Zora und Delphine. Wir assen Pommes und Kuchen und du warst unglaublich glücklich. So hast du es dir vorgestellt. Liebste, wie froh bin ich, dass du deinen sturen Schädel durchgesetzt hast. Wie Recht du hattest und wieviel traurig sein du mir damit erspart hast.
Und dann kam der Juli...Schlag auf Schlag ging es. Im Film wären es die Bilder, welche in Blitzlichter gezeigt werden und unglaublich glückliche Stunden darstellen. Denn das waren sie. Unzählige. Unvergessliche. Ich beschreibe nur einige davon.
Am 3. Juli Geburi mit Kuchen zu Hause. Auf dem Stuhl wurdest du fünf Mal in die Luft gehoben, laut singst du mit, ein wenig falsch aber sehr glücklich. Am 5. Juli mit Aba vor Nanas Haus auf dem Dach, lachend, unendlich glücklich, kichernd, stolz, einen Aba zu haben so wie er ist. Genau so. Mayra durfte auch hochkommen. Zu dritt habt ihr die Aussicht genossen, von oben. Und schon am nächsten Tag das berühmte Foto in Nanas Schöpfli, mit deiner lieben Li-Si, der Puppe. Du blickst in die Ferne, in eine andere Welt. Und auf dem Heimweg finden wir ein neues Skateboard, welch ein Glück du immer hattest, als Sachensucherin alles zu finden.
Am 7. Juli ein Besuch im Westside in der Badi. Wir höpften fröhlich als Wossis durch den "Fluss". Gefühlte tausend Mal wolltest du mit dem Ring heruntersausen. Und dann die Wildwasserbahn. Nein, da darf man erst mit 1.20m sausen. Wütend warst du. "Ima, genau a däm Tag woni 1.20m bi muesch du mit mir is Westside cho aberütsche." Ja meine liebe Sternentochter, das werden wir gemeinsam tun. Ich werde dich mitnehmen!
Am 8. Juli die Schatzsuche in Bern bei strömendem Wetter mit Zora, Delphine und Anna.
Am 9. Juli warst du Goalie im Garten mit allen Nachbarskindern. Deine besten Freunde waren dabei und du hattest Sorgen, dass du sie nach den Ferien nicht mehr siehst. Wie recht du hattest, wie gut dass du noch für sie gezeichnet hast und für Tim einen Zwerg ausgelesen hattest.
Und am Wochenende, dem letzten Zuhause, unser Besuch mit Nana auf der Heidialp. Wir fuhren hin und auf dem Weg waren wir am Zürichsee im Strandbad. Alle waren wir im frischen Wasser. Und danach durften wir im Bed and Breakfast schlafen. Im Heidizimmer. Neben meinem Bett lagst du am Boden, weil du unbedingt bei mir schlafen wolltest. Ab und zu habe ich meine Hand ausgestreckt, so dass du nicht unruhig bist. Und dann am Morgen: glücklich haben wir gefrühstückt und sind dann auf die Alp hochgelaufen. Einige Kilometer den Hoger hoch. Du mit einem Rucksack. In der Mitte sassen wir auf einer Bank und haben eine Schweigeminute eingelegt. Nachher hast du gesagt: "Und itz müesse mer o no e Schwätzminute mache". Eine Minute lang haben wir also durchgeplappert, um dann das letzte Wegstück in Angriff zu nehmen. Immer wieder hast du mit mit "Abkürzungen" gemacht, welche oft auch länger dauerten. Oben angekommen hast du deinen Rucksack ausgepackt. Ein grosses Solarlicht war dabei. Den ganzen Weg hast du es getragen und gesagt: "Me brucht äbe immer und überall es Liecht drbi." Seit wir von Frankreich nach Hause kamen, geht genau diese Lampe nicht mehr...dein Licht hast du auch jetzt mitgenommen. Ich höre es wie du sagst: "Macht nüt Ima, dir heit doch so viu daheim." Dann haben wir Wurst gegessen, du natürlich ohne etwas. Und sind alles wieder nach unten spaziert und mussten Geissli füttern und in Heidis Schulzimmer sitzen. Deine ernsten Augen am Schultisch. Hast du gewusst, dass du da nie sitzen wirst? Wie schön durftest du es mit deiner Nana erleben. Und nicht zu vergessen, nach der Rückfahrt durften wir bei Bede noch den Match schauen. Du bist dann mittendrin eingeschlafen und wir konnten dich ins Bett tragen. Im Leopardverkleidungsdress. Nur damit kann man Most trinken. Deine Worte.
Danach gab es einen Tag zu Hause und unsere Fahrt nach Frankreich. Deine Weisheiten sind mir in den Ohren. "Ima, we dr Schutzängu eim holt, de cha me nid nei säge." Die Reise dahin und deine Worte und Zeichen...die sollen Teil sein eines weiteren Texts.
Zutiefst herzberührt..ohne Antworten, aber wissend, was es heisst, ein Kind zu verlieren..Gäbe es irgendeinen Trost, würde ich ihn dir schicken..aber ich habe ihn nie gefunden. Eine Umarmung zu dir..
Und im Strandbad gingen Ory und ich heimlich Gumpibaelle kaufen ...